
Man kann etwas erst dann bekämpfen, wenn man es kennt
Kenne deinen Feind. Ich bin mir nicht sicher, wo ich diesen Satz gelesen habe. Vermutlich in einem Hollywood Blockbuster oder einem Videospiel. Generell mag ich es nicht, Menschen in Freunde und Feinde einzuteilen. Dennoch dient die Bezeichnung „Feind“ in diesem Fall dem Zweck der Erläuterung. Um also zu erkennen, ob wir dagegen ankämpfen sollten, dass wir introvertiert sind, müssen wir die Introvertiertheit zuerst verstehen. Denn oftmals täuscht der erste Eindruck. Auch wenn es sich um einen selbst handelt.
Introvertiert zu sein ist keine Schwäche
Als mir nach vielen Gesprächen immer klarer wurde, dass ich mich zu den introvertierten Menschen zählen kann, ging es mir nicht gut damit. Ich habe grundsätzlich ein nicht allzu großes Selbstbewusstsein und tauche gerne in der Menge unter. Sofern ich sie nicht komplett vermeiden kann. Mein Umfeld lies mich immer wieder spüren, dass ich anders bin. Vor allem wurde mir klar gemacht, dass ich eher merkwürdig sei. Als ich den Vorschlag eines langjährigen Freundes ausschlug, dass wir mal wieder durch die Bars ziehen sollten, erklärte ich es mit meinem Bedürfnis nach ruhigeren Aktivitäten. Offensichtlich verstand er es nicht ganz: „Im Alter wirst du auch ein bisschen komisch.“
Es hat mich wochenlang beschäftigt, wie er das gemeint hat. Leider blieb es aber mit einem sehr negativen Touch verbunden und unsere Freundschaft litt leider darunter. Ich war in der ersten Zeit nicht sauer auf ihn, sondern darauf, dass ich introvertiert bin. Warum bin ich nur so? Warum kann ich nicht sein wie die anderen? Das wird mir immer wieder Probleme machen und irgendwann ende ich als Einsiedler, der nach seinem Tod noch wochenlang in der Wohnung liegt, weil ihn niemand vermisst.
Doch das war der komplett falsche Ansatz. Von einem stark reduzierten Selbstbewusstsein getrieben, suchte ich den Fehler zuerst bei mir. Es ist aber kein Fehler. Das kann man nicht oft genug betonen. Introvertiert zu sein ist letztendlich nur ein Persönlichkeitsmerkmal. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es geht nicht darum es zu leugnen, sondern sich auch auf die Vorteile konzentrieren. Und das Introvertiert zu sein Vorteile mit sich bringt, ist mittlerweile schon sehr oft nachgewiesen worden.
Akzeptiere dich so, wie du bist
In den Sozialen Medien ist es leider oftmals so, dass einem regelmäßig vor die Nase gehalten wird, wie man am besten zu sein hat. Welche Klamotten man tragen soll. Wie oft man Sport treiben soll und welcher Sport der beste für einen ist. Welche Ernährung die richtige ist und selbstverständlich die Aufforderung, sich permanent selbst zu optimieren. Die unterschwellige Botschaft, dass man ansonsten nicht gut genug ist und der Druck der damit erzeugt wird, ist immens.
Meine Meinung dazu: Was für ein Schwachsinn! Nur mal ganz hypothetisch ein Gedankenexperiment. Wenn alle Menschen sich an die Ratschläge der Influencer halten würden, was würde wohl passieren? Wir würden alle die gleichen Klamotten tragen, den gleichen Sport treiben, uns gleich schminken, die gleiche Frisur tragen usw. Falls es noch nicht klar geworden ist, worauf ich hinaus möchte: Wir wären alle gleich. Jede Individualität ginge verloren und all das, was uns persönlich als Mensch ausmacht, würde unter einer Verkleidung versteckt werden.
Du hast eine große Nase? Ja und? Irgendjemand findet sie toll. Du kannst dir keine teuren Klamotten leisten? Deswegen müssen sie nicht zwangsläufig schlechter oder nicht hübsch sein. Und wenn doch, dann ist es deine Kleidung, aber nicht du. Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts, lag die durchschnittliche Schuldenhöhe von unter 25 jährigen Personen, die 2024 eine Schuldnerberatung in Anspruch nahmen, bei 11.300 Euro. Zwar liegt die Hauptursache in der Arbeitslosigkeit, einen hohen Anteil hat aber auch der Online Konsum. Weil viele Menschen denken, sie müssten sich durch den Kauf von Gegenständen verbessern.
Sei dir deiner positiven Seiten bewusst
Je nachdem wie stark die eigene introvertierte Ausprägung ist, kann man sehr gut allein sein. Wenn man einer Situation ausgesetzt bist, die einen viel Energie kostet, dann ist es relativ einfach dieser zu entfliehen. Man zieht sich zurück und tankt in der Ruhe neue Kraft. Extrovertierte haben es da deutlich schwerer. Sie beziehen ihre Energie aus intensiven sozialen Umgebungen. Aber was machen sie, wenn sie nicht freiwillig allein sind? Sie fühlen sich oftmals gezwungen unter Menschen zu gehen und nicht selten kommt es vor, dass sie sich dafür mit Personen umgeben, die eher dem Zweck dienen. Hauptsache unterwegs.
Vor kurzem war ich mit Freunden indisch Essen. Es war ein toller Abend in kleiner Runde und um 22 Uhr haben wir das Restaurant verlassen. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr nach Hause. Die anderen zogen noch weiter in eine Bar. Nun könnte ich mir einreden, dass ich etwas verpasst habe. Ich könnte mir aber auch sagen, dass ich um 23 Uhr im Bett lag, ein tolles Buch in der Hand hatte und meinen geliebten Kater neben mir. Am nächsten Morgen war ich um 7 Uhr wach und ausgeschlafen. Ich konnte direkt in den Tag starten und draußen die Ruhe vor dem Sturm genießen.
Ein anderes Beispiel. Ich liebe Spaziergänge beinahe genau so sehr wie mit einem Buch auf der Couch zu liegen. Für beide Hobbys benötige ich keine anderen Menschen. Ich kann jederzeit das tun, was mir zusagt. Ohne dabei auf andere Menschen angewiesen zu sein. Wäre eine meiner Lieblingsbeschäftigungen auf Partys zu gehen, muss es erst mal eine geben. Entweder ich veranstalte selbst eine, oder ich bin zu einer eingeladen. Alleine Party machen ist doof und erfüllt eher selten die Bedürfnisse extrovertierter Menschen.
Introvertiert zu sein hat viele Vorteile
Es ist leicht sich die vermeintlichen Schwächen vor Augen zu führen und immer stärker einzureden. Denn sie werden einem ja täglich in den (Sozialen) Medien eingetrichtert. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir uns unserer Stärken bewusst sind. Denn es gibt viele Situationen und Bereiche, in denen sich die Vorteile introvertiert zu sein, deutlich zeigen. Sowohl im privaten, als auch im beruflichen Umfeld.
Uns Introvertierten wird oft nachgesagt, dass wir sehr detailverliebt sind. Ich für meinen Teil kann das zwar nur teilweise bestätigen, kenne aber viele Menschen aus meinem introvertierten Umfeld, auf die das absolut zutrifft. Während andere nur an der Oberfläche kratzen und sich vielleicht schon nach kurzer Zeit einer neuen Beschäftigung widmen, tauchen wir erst so richtig in das Thema ein. Wir hinterfragen Sachverhalte und möchten verstehen warum etwas ist, wie es ist. Je nachdem in welchem beruflichen Umfeld man sich bewegt, kann das eine äußerst hilfreiche Eigenschaft sein.
Was leider immer mehr in unserer Gesellschaft verloren geht, ist Empathie. Viele denken nur noch an sich und die Solidarität mit unseren Mitmenschen sinkt zunehmend. Nicht so bei Introvertierten. Wir können uns meist sehr gut in die Gefühlslage anderer Menschen versetzen. Wir verstehen warum sie etwas bedrückt und können daraus Schlussfolgerungen ziehen, auf denen Tipps und Ratschläge basieren. Deswegen werden wir auch als gute Zuhörer geschätzt.
Alkohol ist nicht die Lösung
Eins sollte einem jedoch klar sein. Akzeptieren, introvertiert zu sein, ist nicht einfach. Oftmals ist es wirklich ein Kampf und man ist gefrustet. Zweifel verstärken sich wieder und man wird empfänglich für zweifelhafte Ratschläge. Wieder mal eine kleine Geschichte:
Ich wurde von einer Freundin darum gebeten, sie auf eine Gartenfeier zu begleiten. Ich sagte zu, erklärte aber schon vorab, dass es anstrengend für mich werden könnte. Viele unbekannte Menschen, viel Smalltalk, laute Musik und alle sind in Feierlaune. Ich erwähnte, dass es manchmal passiert, dass ich unter Alkoholeinfluss entspannter bin. Da ich jedoch noch fahren möchte, wäre das keine Option. Als es dann nach ca. 2 Stunden begann anstrengend zu werden, verabschiedete ich mich von der Freundin. Sie bat mich zu bleiben und dann solle ich eben etwas mehr trinken und mir ein Taxi nehmen.
Sie meinte es sicherlich nicht böse, aber sich mit Alkohol über solche Situationen hinaus zu retten, ist meiner Meinung nach eine schlechte Wahl. Denn im Gehirn passiert nichts anderes, als dass die Emotionen und Empfindungen betäubt werden. Möchte ich das wirklich? Das was mich als Individuum ausmacht einfach betäuben? Zeitlich begrenzt ein anderer Mensch werden, nur damit ich eine Situation besser aushalten kann? Damit ich womöglich besser zu einer Gruppe Menschen passe und deren Bedürfnisse übernehme?
Das Alkohol langfristig sowohl dem Körper, als auch dem Geist schadet, ist mittlerweile wissenschaftlich belegt. Wie sagt man so schön: Es ist immer besser die Ursachen zu bekämpfen, statt die Symptome. Akzeptiert, dass dies nicht eure natürliche Umgebung ist und zieht euch zurück. Wenn ein Vogel ins Wasser fällt, schnallt er sich ja auch keine Schwimmflügel an, sondern versucht verzweifelt in die Luft zurückzukehren.
Be the black sheep
Auch wenn es nicht immer leicht ist. Gerade wenn man gerade erst erkannt hat, dass man introvertiert ist, freut euch darüber und hadert nicht. Akzeptiert es, dass ihr anders seid und ruft euch immer wieder die Vorzüge ins Gedächtnis. Ich muss immer wieder an einen Trainer aus einem Seminar denken, der mir mehrmals sagte: „Frank, be the black sheep. Be different!“
